Dies ist eine fiktive Geschichte, ein Auszug aus dem Buch

“Jenseits der Säulen des Herakles - Schottland”

aus dem Jahr 2009

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Buch der Offenbarung: Die Kinder der Götter



Versunken im Strudel der Gedanken über die Rätselhaftigkeit seiner Existenz und der ominösen Rolle des Highlanders beobachtete Tonio den tanzenden Schein des Feuers auf dem gesalbten Fuß desselben. Was würde er nicht opfern, um einen Blick hinter dessen Stirn werfen zu können... um endlich den quälenden Fragen Antwort zu geben?
"Du willst all das wirklich wissen?", unterbrach Duncan plötzlich die Stille, als hätte er dem Gedankengang gelauscht, wodurch Tonio ihn erschrocken musterte.
"Du solltest dir sehr sicher sein, dass du die Antworten auch hören möchtest, bevor du solcherlei Fragen stellst, kleiner Spanier", grinste Duncan wissend, Tonio schluckte hörbar, ohne den entsetzten Blick abzuwenden.
"Was siehst du mich an, wie eine Erscheinung? Ängstigt dich etwa, dass ich in deinen Gedanken lesen kann?"
Der Spanier nickte verlegen und senkte verstört das Auge gen Boden.
"Ich kann in ihnen lesen, wie in einem Buch", erklärte der Highlander und lächelte versonnen, derweil sein abschätzender Blick über den Sklaven wanderte, welcher sich bebenden Fingers darin versuchte, Schere und Öl beiseite zu räumen. "Und darin reiht sich offenbar eine Frage an die nächste. Es muss furchtbar sein, sich der Worte fähig zu wissen, und doch nicht reden zu können, doch muss ich gestehen, ich finde einen ausserordentlichen Gefallen an deiner Stummheit. Der Mensch verbringt zuviel Zeit mit unnötigem Geschwätz, meinst du nicht auch? Dabei ginge alles so viel einfacher, wenn ein jeder die Fähigkeit besäße, dem Denken zu lauschen."
Er stand auf und wanderte bedächtigen Schrittes durch sein Gemach. Vor einem der Schränke blieb er stehen, löste einen kleinen güldenen Schlüssel von der Kette, die seinen Hals schmückte, und öffnete mit diesem das Schloss des Schränkchens.

"Du bist etwas Besonderes, mein Junge, weißt du das?"
Tonio verneinte kopfschüttelnd und beobachtete beklommen und zugleich neugierig, wie Duncan ein altes, dickes Buch heraus nahm, mit diesem zum Tisch zurück wanderte und es vorsichtig darauf deponierte. Alsdann nahm er davor Platz und tastete ehrfürchtig über den reliefartigen Einband. Dieser zeigte keltische und griechische Symbole aus Silber gefertigt, welche sich um ägyptische Hieroglyphen aus echtem Azurit wanden, während sie gemeinsam einen strahlenden Kranz um eine goldene Pyramide bildeten. Im Innern der Pyramide hatte sich ein einzelnes Auge geöffnet und erschien in seiner Art ebenso stechend und übermächtig, wie jene des Schotten. Den Einband selber, welcher aus einem glänzenden Holz gefertigt war, umrahmte eine goldene Fassung mit dem Aussehen einer Schlange, deren Kopf den Verschluss des Buches darstellte.
Nun strich die Hand des Highlanders zärtlich über den goldenen Schlangenkopf, und so, als würde das metallene Tier sich für die Zärtlichkeit bedanken, öffnete es, von einem hellen Klicken begleitet, sein Mundwerk, um den Inhalt des Buches frei zu geben. Noch einmal sah er den Spanier an und musterte ihn gründlich, dann schlug er die erste Seite vorsichtig auf...

"Komm her und setzt dich zu mir!", befahl ihm die ungesprochene Stimme nun und Tonio folgte ihr, wie gewöhnlich, nach Art der Marionetten, ohne zu zögern und willenlos an den Tisch. Dort aber umgab das unheimliche Buch eine solch ehrfürchtige Stimmung, dass sein Blick wie gebannt darauf lastete und ihm die Beine erst wieder gehorchten, als Duncan den Befehl wiederholte.

"Ich werde dir nun ein Geheimnis anvertrauen, welches so gewaltig ist, dass es die gesamte Menschheit in Chaos stürzte, würde sie je davon erfahren", fuhr die Stimme fort, "und ich kann dir versichern, dass du dein Leben verspielst, solltest du mein Vertrauen jemals missbrauchen. Daher frage ich dich nun noch einmal: Bist du bereit für die Wahrheit?"
Tonio löste das Auge schwerfällig von dem bannenden Relikt, um den Mann neben sich kurz zu mustern, während die Antwort nicht kommen wollte, denn seine brennende Neugier steckte in einem hitzigen Kampf mit der Angst vor diesem bedrohlichen Geheimnis.
"Sei unbesorgt, Tony!", beruhigte ihn der unheimliche Schotte lächelnd, "Sollte dir die Erkenntnis zu sehr zu schaffen machen, werde ich sie wieder aus deinem Gedächtnis löschen. Doch nimmst du mein Angebot an, wird dir eine aussergewöhnliche Gnade zuteil, ein Geschenk, für das mancher seine Seele verkaufte, könnte er mit dir tauschen. Dürstet dich also zu erfahren, wer du bist und warum du etwas Besonderes bist, dann höre mir nun gut zu!"
Tonio nickte zögerlich, da schob er ihm das offenen Buch vor den Blick und deutete auf eine außergewöhnlich gestaltete Seekarte, welche sich über die ersten zwei Seiten des Wälzers erstreckte, seine Finger umfuhren dabei eine große Insel, die sich aus der Mitte des atlantischen Meeres erhob. Sie erschien dabei einen solchen Umfang zu besitzen, dass sie sich von der Karibik bis an die europäisch-afrikanischen Gewässer erstreckte.

"Dieses Inselreich, welches dir kaum bekannt sein dürfte, war einst die Heimat meines Volkes. Doch auch ich kenne es lediglich durch dieses Buch und die Erzählungen meiner Urahnen. Als ich das Licht der Welt erblickte, gab es das Land schon lange nicht mehr, es muss einmal wie das Paradies gewesen sein, von dem die Bibel berichtet."
Er blätterte weiter und deutete auf eine detailreiche, wunderbare Abbildung. Darauf war ein Mann zu sehen, den man gefesselt und an einen Felsen gekettet hatte. Dem peinverzerrten Antlitz war hinein gemalt, welch furchtbare Qual er litt, denn in seinem blutenden Unterleib hatte ein Adler seine Krallen versenkt, während er mit dem Schnabel von seinem Fleisch ein Stück heraus riss.

"Was du hier siehst, Tony, beschreibt ein Ereignis aus dem Leben des Titanen Prometheus; die Legende ist auch heute noch bei dem Volk der Griechen bekannt, nur kaum einer kennt die ganze Wahrheit über jenen mächtigen Gott.
Ich werde mich bemühen, dir in kurzen Worten die ganze Historie zu schildern, denn ihre Chronologie ist zu umfangreich, um sich an Einzelheiten zu ergehen. Doch findest du in diesem Buch zu jedem wichtigen Ereignis ein wunderbares Bildnis, welches du dir genau ansehen solltest."
Er lächelte auffordernd und Tonio blätterte behutsam und mit zittrigen Fingern die schwere Seite, welche den Eindruck erweckte, das Gewicht der Menschheitsgeschichte in sich zu tragen. Um die Bilder reihten sich viele der sonderbaren Schriftzeichen, von denen er keines zu lesen vermochte, die ihm aber auf seltsame Art vertraut erschienen. Da hub die lautlose Stimme des Highlanders an zu erzählen:

"Es war nämlich zu einer Zeit, als Zeus, der Vater aller weltlichen Götter, den Titanen Prometheus zur Strafe für seinen Ungehorsam an den Kaukasus gekettet hatte, wo er viele Jahrtausende unsägliche Qualen erdulden musste. Der Titan hatte Zeus erzürnt, da er den Menschen das Feuer brachte, um deren beschwerliches Dasein zu erleichtern. Es war aber dem Göttervater zuwider, den niederen Mensch der Beherrschung des Feuers fähig zu wissen, eine Fähigkeit, die allein den Göttern vorbehalten sei.

Zu jener Zeit also, so sagt es die Legende, war es um unser Volk sehr schlecht bestellt. Es bewohnte die nördlichen Gefilde Europas, da diese in Urzeiten warm und menschenfreundlich gewesen, doch dann hatte sich die Natur gegen die Menschen verschworen, zeigte sich von einer kalten, unwirtlichen Seite und zwang sie schließlich, ihre Heimat zu verlassen, um nach einer neuen Bleibe zu suchen. Auf Schiffen zogen sie südwärts, kämpfend und erobernd auf der Suche nach neuem Land, auf dem sie sich nieder lassen konnten...
Während dieses langen, verzehrenden Exodus erreichten sie den Kaukasus, wo sie den gefesselten Prometheus fanden.

Als dieser den Menschen seine Geschichte erzählte und sie um Hilfe ersuchte, boten sie ihm einen Tauschhandel an. Sie wollten ihm dienlich sein, wenn er ihnen eine neue Heimat gab. Prometheus willigte ein und gab ihnen den Rat, sich an den Bruder des Zeus, den Meeresgott Poseidon zu wenden, da dieser ihnen Heim geben und ihn in gleicher Zeit erretten konnte.
Poseidon, welcher just mit dem Bruder in schweren Zwistigkeiten stand, gewährte den Menschen gerne den Gefallen, er schickte seinen starken Neffen Herakles, damit er Prometheus befreie, und schuf in gleicher Zeit ein Inselreich, groß wie ein Kontinent und schön wie das Paradies, auf der das heimatlose Volk leben konnte.
Der Titanensohn dankte dem Volk für seine Hilfe und lebte fortan mit ihnen auf der Insel, die ihm zugleich ein Ort der Zuflucht war und welcher er den Namen 'Atlantis' gab. Seinem Befreier, dem tollkühnen Herakles, dessen unbändige Kraft ihn mitsamt der Ketten aus dem Berg gerissen hatte, errichtete er ein leuchtendes Denkmal, weithin sichtbar über die Wasser des Ozeans.

Poseidon indes fand Vergnügen an dem Land, das er geschaffen, und an den schönen Bewohnern desselben.
So zeugte er mit deren Frauen viele Nachkommen, die sein göttliches Erbe in sich trugen und lehrte sie göttliches Wissen. Seine Kinder erlangten gleichermaßen Unsterblichkeit und eine übermenschliche Kraft. Man nannte sie die Nephilim und zollte ihnen denselben Respekt, behandelte sie mit derselben Ehrfurcht, wie den Vater, welchen sie Nephtun nannten, was in ihrer Sprache 'Gründer' bedeutete.

Doch auch Prometheus hatte sein Erbe weiter gegeben und mit den Menschen eine neue Rasse gezeugt. Diese wurden Desmoten geheissen, da man ihren Vater 'Desmotes, den Gefesselten' nannte.
Wie aber die Nephilim sahen, dass die Kinder des Titanen ihnen ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen waren, entbrannte ein Streit um die Vorherrschaft über das Reich. Poseidon berief zehn seiner Nachkommen zu den Herrschern von Atlantis, um seine Macht zu festigen, derweil sich die Desmoten mit den Menschen verbündeten, um das Volk gegen seine Herrscher aufzubringen. Wer ihnen nicht aus freien Stücken folgte, den zwangen sie mit Gewalt.
So wurde den Menschen ihre Schwäche zum Verhängnis, sie gerieten zum Spielball zwischen den Götterkindern, von denen ein jeder bestrebt war, diejenigen, welche sich in ihrer Verzweiflung nicht zu wehren wussten, auf die eigene Seite zu ziehen.
Eine düstere Zeit brach an, in der die Halbgötter den Niederen ihre Überlegenheit aufzeigten, sie unterjochten, versklavten und auch töteten.

Als Prometheus die Verderbnis in den Seelen seiner Kinder erkannte und sah, dass die Halbwesen zu einer ernsten Bedrohung heran gewachsen waren, bat er abermals Poseidon um Hilfe. In seiner Wut beschwor dieser alle Elemente, welche ihm untertan, um die gesamte Insel in den Fluten des Meeres zu versenken.
Den Titanen indes dauerte das Schicksal der Menschen, die ihn eins errettet hatten, und so berichtete er denjenigen Gotteskindern, deren Herzen rein geblieben waren, von dem Vorhaben Poseidons und schuf ihnen eine Stadt, deren goldene Mauern allem Unheil widerstünden, damit diese sich und die Unglücklichen darin retten konnten.
Einige von ihnen ahnten jedoch, dass diese Stadt gleichermaßen ein Gefängnis sein würde, und sie flohen in ihrer Not auf Schiffen und Vimanas, den göttlichen Flugschiffen, von dem todgeweihten Eiland.
Noch in derselben Nacht öffnete sich der Schlund des Meeresbodens, verschlang die Insel samt der goldenen Stadt von der Oberfläche des Erdballs und riss alles Leben mit sich.

Die aber, welche der furchtbaren Katastrophe entkommen waren, schlossen Frieden miteinander und zogen aus, um sich unter die Menschen zu mischen. Jene, welche sich niederließen, errichteten Denkmäler und Kultstätten zu Ehren ihrer Herkunft. Die anderen wanderten durch die Lande, um ihr Wissen an die Erdenkinder weiterzugeben, damit ihnen die Mühsal ihres kargen Lebens erleichtert werde.
Die Menschen jedoch zeigten sich unfähig, das Gelernte weise zu verwenden, sie begriffen in ihrer Einfalt nichts von der Beschaffenheit der göttlichen Techniken, alle Mühe fiel auf fruchtlosen Boden. So wandten sich die Halbgötter von ihnen ab und fristeten ihr Dasein in der Abgeschiedenheit der Berge, auf einen Tag wartend, an dem die Menschheit bereit wäre für ihre Lehren.

Es verging Jahrhundert um Jahrhundert, doch die Entwicklung des Menschengeschlechts schritt langsamer voran, als es der Geduld der Atlanter zuträglich war.
Während dieser Zeit des Wartens geriet einigen von ihnen die Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies und den gefangenen Geschwistern zu einer solch heftigen Qual, dass sie begannen, einen Zugang zu dem unterirdischen Reich zu suchen.

Derweil entschlossen sich die anderen, eine neue Rasse zu gründen, welche fähig sein würde, von ihnen zu lernen. Sie erwählten sich die stärksten Geschöpfe aus dem Geschlecht der Menschen heraus, um Kinder mit ihnen zu zeugen.
Das Experiment jedoch misslang, denn die Bastarde erbten nur wenig vom göttlichen Samen, zuwenig, um den Vätern auch nur annähernd ebenbürtig zu sein, doch zuviel, um zu den Menschen zu gehören.
Von den enttäuschten Halbgöttern verstoßen, sahen sich die Unseligen dem Zwang ausgesetzt, eine Seite zu wählen, zu welcher sie sich zugehörig fühlen konnten.
Bald stellte sich heraus, dass die Kinder der Desmoten dem schwachen Menschengeschlecht den Vorzug gaben, ihre titanische Herkunft verleugneten und ein unscheinbares Leben abseits des Einflusses der Väter wählten, während jene der Nephilim, welche die übermenschliche Kraft Poseidons in sich spürten, bald nach dieser verlangten und danach gierten, das mächtige Erbe ihrer Ahnen in sich zu tragen.
Also baten diese, die halb Mensch halb Nephilim waren, die Väter, ihnen zur göttlichen Macht zu verhelfen. Tatsächlich fanden sie unter denselben mitleidige Seelen, die sich der Unvollkommenheit ihrer Brut erbarmten. Sie vollzogen ein Ritual, bei dem den Bastarden der Lebenssaft entzogen wurde. War das Herz im Begriff, zu erkalten, wurde ihnen vom Blut des Vaters in die Adern gegeben, bis es wieder schlug. Die so zum neuen Leben erweckten Halbmenschen hatten hernach mehr Macht und erbten sogleich einige der göttlichen Fähigkeiten, doch im selben Zuge erhielten sie auch den Fluch derselben, und dieser begann ihnen schon bald zu Kopf zu steigen.
Von diesem Fluch will ich dir nun berichten, denn der besiegelte schließlich den Untergang des legendären Geschlechts der Atlanter."

Tonio bedachte den Highlander mit einem beklommenen Seitenblick, denn eine gewisse Ahnung umklammerte sein Herz, dass ihm dieser Fluch nicht unbekannt sei. Duncan indes schlug eine weitere Seite des Buches auf und deutete auf eine Abbildung, die den Spanier umgehend an jene Nachtmahr erinnerte, welche er in dessen Gemach und eben noch zum zweiten Male im Kreis der Gäste erlebt hatte. Doch ehe er sich darüber verwundern konnte, erzählte die innere Stimme schon weiter.

"Es war jener Fluch, teuflischer, als der verwerflichste Plan, den sich ein Mensch hätte ausdenken können. Die Halbgötter hatten zwar die Gabe der ewigen Jugend geerbt, doch fehlte ihnen eine Zutat, welche mit Atlantis untergegangen war: Die goldenen Äpfel der Hesperiden. Diese göttliche Frucht weigerte sich beharrlich, auf irdischer Erde zu gedeihen und alle Saat verdorrte. So begann das Blut, welches durch die Adern der Atlanter floss, mit den Jahrhunderten aus dem Gleichgewicht zu geraten.
In der Folge wurde die menschliche Hälfte der Halbwesen zunehmend von jener des Gottes verschlungen, und schließlich blieb nichts davon übrig, als der ureigene Trieb, welcher dem Menschengeschlecht das Überleben sicherte: Der Drang zu jagen, zu töten und sich fortzupflanzen.
Blieb dieser Trieb unbefriedigt, wurde er so übermächtig, dass dem göttlichen Bastard der Verstand zu entschwinden drohte. Führte er sich in seinem Rausch aber das frische Blut eines reinen Menschen zu, war das Gleichgewicht wieder hergestellt und der Geist klar wie ein Quell.
Doch war dieser Zustand nicht von Dauer, denn das göttliche Erbe verschlang auch dieses Blut wie ein gieriger Wolf und quälte seinen Träger mit einem furchtbaren Durst, sobald es vertilgt war. Und als wäre der unselige Blutdurst die Strafe für den Hochmut der Halbgötter, beherrschte er sie, wie ein Tyrann, nahm ihnen den freien Willen und versklavte sie, wie ihre Brüder einst die Menschen versklavt hatten, zwang sie zu jagen und zu töten wie das niedere Getier.
Derjenige, welcher sich weigern wollte, sich auf die niederste aller Stufen herab zu lassen, bezahlte seinen Wagemut mit dem Verlust des Verstandes und auch die Macht über den eigenen Leib kam ihm dabei abhanden.
In solchen Zuständen konnte ein einzelner Atlanter ganze Sippen auslöschen; bestenfalls nahm er sich im Wahn selbst das Leben.

Jenen teuflischen Fluch erbten nun die untoten Abkömmlinge bei ihrer Auferstehung und übertrafen im Rausch desselben ihre göttlichen Väter an Grausamkeit und Blutrunst, dann wurden sie zu Bestien und zogen umher, mordend in der Gier nach Blut. Doch erwies sich der Mensch als eine recht geschickte und lernfähige Beute, und ward dem Räuber eine echte Herausforderung.
So kam es, dass sich im Laufe der Jahrhunderte auch das Aussehen der Jäger nach den Eigenarten der Tiere formte, in deren Art sie jagten. Der Fang ähnelte mehr und mehr dem der Raubkatzen, dem Ohr entging nicht der geringste Laut, dem Auge nicht die unmerklichste Regung. Selbst an Schnelligkeit und Geschick waren sie der Gazelle und dem Falken ebenbürtig und dem ein oder anderen wuchs zu diesem Zwecke auf dem Rücken ein großes Paar mächtiger Schwingen. Manch einem gelang es gar, während der Jagd in die ganze Gestalt eines Tieres zu schlüpfen, wenn es dem Vorteil dienlich war.
In diesen göttlichen Fertigkeiten übertrafen sie selbst ihre Väter.
Als die Bastarde ihre Überlegenheit erkannten, stieg ihnen die Macht zu Kopfe und sie strebten die alleinige Herrschaft über die göttliche Rasse an.

Ihr Anführer, ein wilder Mann namens Lykaon, begann einen erbitterten Krieg gegen die Atlanter, deren Anzahl jener der Abkömmlinge weit unterlegen war, denn diese hatten sich in ihrem triebhaften Rausch ungezügelt vermehrt. Schon bald drohte der ganze Bestand der Halbgötter der Machtgier ihrer Kinder zum Opfer zu fallen
In ihrer Not suchten sie ihre Brüder auf, welche die Zeit mit der Suche nach der goldenen Stadt verbracht hatten, und halfen ihnen, um die Grabungen zu vollenden.
Als der Zugang geschaffen war, und die befreiten Atlanter sich anschickten, ihren verzweifelten Brüdern zur Hilfe zu eilen, wurde der Göttervater Zeus auf das Treiben der Halblinge aufmerksam.

Erzürnt über den Frevel Poseidons, ein solch mächtiges Geschlecht gezeugt zu haben, schickte er in seiner Allmacht einen gewaltigen Regen über das Land, um die Götterkinder und ihre blutrünstige Brut darin zu ertränken. Den Eingang zum versunkenen Reich versiegelte er mit einem mächtigen Schlüssel, den er hernach in seiner Wut zerschmetterte.
Die Atlanter aber, welche das Tor geschaffen, verbannte er an jenen Ort, damit sie den Zugang bewachen bis in alle Ewigkeit. Er schwächte ihre göttlichen Kräfte und nahm ihnen die ewige Jugend im Tausch gegen ein ungewöhnlich langes Leben, das von nun an wie ein Fluch auf ihnen lastete.
Prometheus indes, den das Schicksal seiner Kinder dauerte, baute dem liebsten seiner Söhne in aller Heimlichkeit eine Arche, damit er dem Regen entkommen solle. Auf diese Weise überlebte Deukalion die schreckliche Flut, welche das ganze Land bedeckte; doch Zeus strafte auch ihn und beraubte ihn seiner hehren Kräfte.
Dem Göttervater war indes die heimtückische Flucht einiger Lykaonier entgangen. Sie hatten sich, in die Häute von Tieren gewickelt, im Rumpf des Schiffes versteckt, mit dem der Desmot die Flut überdauert hatte.

Als das Wasser abgeflossen war, zogen die untoten Bastarde aus, um nach ihren sterblichen Brüdern und Schwestern, und den desmotischen Halblingen zu suchen, die sich über die Welt verstreut hatten. Mit diesen Abkömmlingen gedachten sie sich zu vermehren, um so ihre Macht erneut auszuweiten. Wurden sie ihrer habhaft, unterzogen sie die Unglücklichen gegen ihren Willen dem Ritual, trieben den Frauen gewaltsam ihren Samen in den Schoß und zwangen die Männer zur Zeugung.
Die auf solche Weise gezeugten Mischwesen waren dem gewöhnlichen Menschen an Kraft und Ausdauer überlegen, doch zeigte der Fluch bei den Desmotenkindern eine andere Wirkung. Während die Sprösslinge der Nephilim dem Blutdurst unterlagen und zur ewigen Jugend gelangten, begaben sich diese nun mit Körper und Seele in den Willen ihrer Bezwinger und blieben weiterhin sterblich.
So schufen sich die machtlüsternen Lykaonier ein willenloses Heer starker Sklaven.

Tatsächlich aber gab es auch unter den Bestien welche, deren Natur sich von jener der Brüder unterschied, deren Herzen sich den Unterdrückten öffneten, diese liebten und sich mit ihnen ohne Gewalt verbanden.
Ein so gezeugter Nachkomme war ein Mann namens Jeshua ben Josef, nun bekannt unter dem Namen Jesus von Nazareth, ein Bastard, dessen Mut und Willensstärke dem Volk der Tyrannen zu einer ernsten Bedrohung wurde. Von ihm will ich dir nun erzählen, denn auch hier weiß die Bibel nur Halbwahres zu berichten."

 

 

Von Jesus und den Tempelrittern

 

 

Während der letzte Worte hatte Tonio sein Haupt aus dem Buch erhoben, um Duncans Miene zu betrachten. Zu unglaublich erschien ihm das Erzählte, um nicht die fremden Gedanken anzuzweifeln, die sich wie von Geisterhand hinter seine Stirn pflanzten. Doch im Antlitz des Freibeuters regte sich darauf nur ein belustigtes Lächeln und die Finger desselben deuteten schweigend auf ein weiteres Bild. Abgebildet war darauf ein blutiges Gemetzel an kleinen Kindern und Neugeborenen, aufgespießt mit den Schwertern römischer Soldaten, eine Szene, die schauerlicher kaum sein konnte, und die Stimme fuhr in ihrer Erzählung fort.

"Jesus war der Spross einer leidenschaftlichen Liebe zwischen Maria, einer Jungfrau vom Clan der Desmoten und Tiberius Panthera, einem römischen Soldaten vom Clan der Lykaonier. Da dieser sich der Verbindung schämte, verleugnete er das Weib öffentlich, als es seine Frucht im Leibe trug, doch heimlich verhalf er ihm zur Flucht.
Auf diese Weise entging Maria und ihr Ungeborenes den Verfolgern bis zur Niederkunft. Dennoch brauchte es ein Wunder, damit der kleine Knabe den blutlüsternen Schergen des Herodes und dem verhängnisvollen Ritual entkommen konnte. Es war Prometheus selber, welcher seine schützende Hand über das Leben dieses Sprosses hielt, denn in diesem sah er ein Zeugnis jener Regung, die er lange verloren geglaubt hatte. Die Fähigkeit zu einer grenzenlosen Liebe, die selbst nicht vor dem Feind zurück schreckte.
Er segnete das Kind mit der Gabe der Weissagung und einem starken Willen.
Als der Junge heran gewachsen war, trieb ihn das wilde Blut des Panthera, gegen sein unseliges Erbe aufzubegehren, denn er wusste um das schwere Los der Desmotenkinder, welche sich in ihrer Not vor dem Zugriff der Bestien versteckten oder flohen.

Zu jener Zeit fristete Jesus ein unscheinbares Dasein als Fischer an einem See in Israel. Gerade zum Manne gereift, und durchaus nicht gewillt, dem blutigen Schicksal seiner Ahnen zu folgen, floh er zunächst bis nach Indien. Dort traf er einen Weisen, welcher ihm von den Lehren Buddhas erzählte, eines desmotischen Urahns, der sich der Heilkunst und Menschenliebe verschrieben hatte. Der Gelehrte unterrichtete ihn ebenso im geheimen Wissen um die Beschaffenheit des göttlichen Blutes und seines Fluches; er gab ihm eine Essenz, gewonnen aus den Kernen der göttlichen Äpfel, und schickte ihn hernach in den Kaukasus, um jenen Ort aufzusuchen, der dem Titanen so viele Jahrtausende sein Heim der Qual gewesen. Dort schlug Jesus einen Stein aus dem Felsen, der gänzlich aus dem Herzblut des Prometheus bestand, welches dieser bei seinem Leiden vergossen hatte. Den Stein barg er in einem goldenen Gefäß, tränkte ihn mit der Essenz und seinem eigenen Blut, und brachte ihn in seine Heimat am See Genezareth.

Alsdann versammelte er eine Schar von Menschen und zwölf seiner Brüder um sich und erzählte diesen vom verlorenen Paradies, versprach ihnen den Zugang dorthin, wenn sie seinen Lehren folgte. Diese Lehre berichtete den Leidgeplagten von Frieden und Nächstenliebe und war ihnen Labsal in den dunklen Stunden. Einstweilen die Zahl der Gläubigen schnell herangewachsen war, erklärte er sich öffentlich zum Sohn Gottes. Doch benannte er nicht seine Urväter Prometheus und Poseidon, sondern einen hebräischen Gott names Jahweh als seinen einzigen Erzeuger.
Dieser Jahweh indes war kaum mehr ein Gott, denn die Nephilim selber. Ein unscheinbarer Halbgott, Spross einer unrühmlichen Verbindung des Gottes El mit einer ägyptischen Sklavin, welcher die Gunst der Stunde genutzt, da sich die wahrhaft mächtigen Götter enttäuscht vom Menschengeschlecht abgewandt hatten..."

Ein lautes Schnaufen unterbrach den stillen Vortrag.
Wieder grinste Duncan amüsiert ob des empörten Kopfschüttelns des Spaniers. Verzweifelten Blickes erwiderte dieser das Lächeln, denn sein gesamtes katholisches Weltbild war im Begriff, unaufhaltsam in sich zusammen zu stürzen. Wie konnte der Freibeuter es nur wagen, solch gotteslästerlichen Frevel über die stummen Lippen zu bringen? War es vielleicht möglich, dass er sich dessen Stimme nur einbildete?
Wie aber kam dann das Bildnis das Heilands in dieses Buch?

"Fragtest du dich denn niemals, warum sich der Charakter deines Gottes gar so wenig mit den Lehren seines angeblichen Sohnes vertrug, Tony?"
Verstört hob Tonio die Schultern, in der Tat war ihm dieser Gedanke durchaus nicht fremd, doch was man mit der Muttermilch aufgesogen hatte, war doch unmöglich in Frage zu stellen.

"Siehst du also, wie mächtig ein solcher Glaube ist? Er beherrscht die Kunst der Verblendung ebenso vortrefflich, wie der Gott selbst. So auch der Glaube um Jahweh.
Dieser hatte sich vor Zeiten mit einer Schar verzweifelter Sklaven im Lande Isreal nieder gelassen und fröhnte dort der Verehrung seiner Herrlichkeit. In seiner Arroganz hatte er den Menschen gar verboten, an die Existenz anderer Götter zu glauben, da er sich seiner Alleinherrschaft sicher wähnte. Doch auch Jahweh hatte im Laufe der Zeit das Interesse an den Menschen verloren und das Volk schließlich sich selbst überlassen. Nur der Glaube an seine Einzigartigkeit und Allmacht war den Israeliten von ihm geblieben.

Diesen Glauben machte Jesus sich nun zu nutze.
Ich erzähle dir seine Geschichte nun genauso, wie sie stattgefunden hat, denn die Wahrheit unterscheidet sich im Detail von den Zeugnissen seiner Jünger.
Jesus predigte den Menschen, die ihn umgaben, das Wort eines Gottes, welcher keine anderen Götter neben sich duldete. Wie dieser nun offenbar einen Sohn gezeugt hatte, und die Zuhörer den Beweis seiner göttlichen Herkunft verlangten, bediente sich der Nazarener der mächtigen Fähigkeiten, welche er so lange verleugnet hatte, um kleine Wunder geschehen zu lassen und den Glauben so zu festigen.
Weil aber die Zahl der Gläubigen so schnell heran gewachsen war, erregten seine Wunder das Misstrauen der Römer, welche zu jener Zeit die Herrschaft über das Land Israel inne hatten, denn deren Götter schmückten bereits seit Jahrhunderten nurmehr als Statuen ihre Tempel. Sie befanden den jungen Mann, der daher kam wie ein armseliger Bettler und von seinem himmlischen Königreich sprach, für überaus anmaßend und verboten ihm seine Predigten.

Wie aber sollte er seine Lehren verbreiten, wie Aufsehen erregen, wenn man ihm das Wort verbot? Hierzu bediente er sich einer List, die an tollkühnem Wagemut lange Seinesgleichen sucht.
Um den Argwohn der Römer erneut auf sich zu lenken, wütete er provokant durch einen ihrer Tempel, predigte und beschimpfte ihre Götter. Dann bat er seinen liebsten Bruder, ihn an die Schergen zu verraten, damit man ihn einkerkere, und während Judas sein furchtbares Werk erfüllte, trank Jesus gemeinsam mit den Jüngern von dem heiligen Blut aus dem goldenen Kelch.
Noch in derselben Nacht nahm man ihn gefangen.
In der Zeit seiner Haft beharrte er trotz grausamer Folter im Angesicht der Römer auf seine göttliche Herkunft, und die alleinige Macht seines Gottes, wohl wissend, dass eine solche Sturheit das Todesurteil zur Folge haben konnte. Dem Statthalter Pilatus muss dies Gebaren wie das Delirium eines Schwachsinnigen erschienen sein, denn er zeigte sich willens, den Angeklagten zu begnadigen, doch nun waren, durch das Aufsehen, welches das Spektakel seiner Verhandlung erregt hatte, die lykaonischen Bestien auf das Treiben des Jesus aufmerksam geworden, und diese verlangten seinen Tod.
Der Römer gab dem Verlangen nach und verurteilte ihn zum Tode durch das Kreuz.

Als man den Leichnam des Nazareners nach der Hinrichtung vom Holz genommen hatte, suchten die Lykaonier die Grabstätte auf, um das Ritual an ihm zu vollziehen. Nun hatte Jesus in weiser Vorraussicht dem Volk und seinen Jüngern seine Auferstehung bereits angekündigt, um die Wahrhaftigkeit seiner Religion zu bestärken.
So war es kaum verwunderlich, dass sich die Kunde von der wundersamen Unsterblichkeit des Jesus Christus wie ein Lauffeuer verbreitete, und mit ihr die Worte seines Glaubens."

Tonio schluckte fassungslos, die Finger tasteten zitternd über das Bildnis der Grabstätte Golgatha, vor der ein Engel Wache hielt. Eine Szene, welche er längst aus der Bibel wusste, hier jedoch blickte man in das Innere der Kammer und sah dort zwei weitere Engel den Leichnam des Heilands mit ihrem Blut benetzen... undeutlich und wie aus weiter Ferne waberte die innere Stimme Duncans durch ein Wirrwarr von Gedanken.


"Die Bestien indes, welche sich am Blut des Gekreuzigten gütlich getan hatten, erfuhren eine wundersame Verwandlung: Augenblicklich verschwand die verblendete Gier und der unstillbare Durst ward gelöscht, dem verwirrten Verstand kam die Vernunft zurück, sie wurden zu weisen Halbgöttern und verschonten von nun an die Desmotenkinder.
Dies erfuhren auch jene Lykaonier, welche sich der Brüder Jesu bemächtigten, um sie dem Ritual zu unterziehen. Als die Kunde von der heilbringenden Wirkung des veredelten Blutes die Jünger erreichte, zogen sie aus, um den verfolgten Desmotenkindern von dem Trank zu geben.
So kam es, dass bald jene, die zuvor noch mordend der Spur ihrer Opfer gefolgt, nun ihrer Blutrunst beraubt und friedlich waren, während sich die Unterdrückten in Freiheit bewegten, erstarkten und sich mehrten.

Jesus aber entzog sich den Blicken aller am Tag seiner Himmelfahrt und ward seitdem nie mehr gesehen.
Nach einiger Zeit war seine Religion zu einer regelrechten Macht heran gewachsen und den Römern ein schmerzender Dorn im Auge, denn sie brachte den Glauben an ihre eigenen, untreuen Götter in ernste Gefahr.
Mit allen Mitteln versuchten sie daher, die aufflammende Lehre des Untoten zu unterdrücken, doch je mehr sie dagegen unternahmen, um so größer wurde die Zahl ihrer Anhänger.
Schon bald war die neue Religion so mächtig, dass die Götter des Olymp keinen Bestand mehr hatten.

Nun fragst du dich zurecht, was die Geschichte dieses Mannes und seiner Anhänger mit den Nachfahren Poseidons zu tun hatte. Seinen sinistren Plan wirst du fähig sein zu begreifen, wenn du dir das Schicksal dieser unglückseligen Rasse in seinem ganzen Umfang betrachtest.
Es hatten die Lykaonier seit der Wut des Zeus und der darauf folgenden Sintflut nämlich ihr Dasein unbemerkt im Schatten der Welt gefristet. Wo sie einst noch erhobenen Hauptes das göttliche Erbe zu Markte trugen und stolz die Merkmale ihrer Besonderheit im Angesicht aller zeigten, jagten und lebten sie fortan im Verborgenen und mieden es geflissentlich, vom gewöhnlichen Volk erkannt zu werden oder mit ihren allgewaltigen Fähigkeiten Aufsehen zu erregen. Die Furcht vor dem Zorn des Göttervaters trieb sie in die dunkelsten Höhlen und nötigte sie gar, ihre Herkunft zu verleugnen.  
Dieses dunkle Zeitalter liegt bereits eine halbe Ewigkeit zurück und es verflossen viele Jahrhunderte und Jahrtausende, bis die Unglücklichen ihr Los angenommen hatten.

In dieser Zeit hatten sie erlernt, unerkannt umher zu wandeln, und sich die Fähigkeit des Blendwerks zu Nutze zu machen, welche ihnen ermöglichte, die verräterischen Merkmale ihrer überirdischen Herkunft vor dem Auge der Menschen zu verbergen. Sie gaukelten ihnen vor, einer der Ihren zu sein, erschufen ein menschliches Abbild ihrer selbst, welches von festem Fleisch und Blut erschien, während die göttliche Gestalt in einer Zwischenwelt verweilte. So sah ein jeder lediglich einen gewöhnlichen Sterblichen, der lange Fang, die scharfen Pranken und die mächtigen Schwingen blieben dem Blick indessen verborgen.
Dennoch geriet dem ein oder anderen hin und wieder der Hochmut zum Wagnis und er prahlte mit seiner Macht oder hinterließ eine nachlässige Spur als Zeugnis seiner übermenschlichen Natur. Auch die Zeremonie des Rituals barg eine solche Gefahr, da sie alle Kräfte einforderte und keinen Platz für Gaukeleien ließ.
Diese Achillesferse sollte dem Jäger bald zum Verhängnis werden, denn die Zeit des Friedens war nicht von Dauer. Etwa im elften Jahrhundert nach dem Tode Jesu verlor sich die Wirkung des heiligen Tranks in den Adern derselben, und das verfluchte Blut drohte erneut aus dem Gleichgewicht zu fallen.

In ihrer Not suchten sie nach dem Grund dieser Wirkung, welche den Durst so verblüffend gestillt hatte, und schließlich glückte es ihren Führern, sich das Vertrauen der Christen - wie sich die Anhänger des Nazareners nannten - zu erschleichen. Von den höchsten Priestern derselben erfuhren sie von dem Kelch mit dem heiligen Blutstein und seinem Versteck. So machten sie sich unter dem Vorwand, den pilgernden Christenbrüdern mit dem Schwert zur Seite zu stehen, in aller Heimlichkeit daran, in den unterirdischen Gängen des Tempelberges nach dem heiligen Blut zu graben.
Nach vielen Jahren der Suche waren die Lykaonier, welche man nun die Tempelritter nannte, schließlich im Besitz des göttlichen Elixiers. Es gelang ihnen, die Essenz nutzbar zu machen, doch war die Wirkung von begrenzter Dauer, es fehlte ihr der Gang durch den Leib eines Desmoten.
Dennoch brach ein wunderbares Zeitalter der Ruhe für das verfluchte Geschlecht der Götterkinder an, denn der Trank erlöste sie, wenn auch kurz, vom elenden Blutdurst und nahm ihnen den Drang zur Menschenjagd.
Es war die unselige Gier nach Macht, welche dem Frieden ein furchtbares Ende setzte.

Sehr zum Leidwesen der regierenden Herrscher, besaßen die Lykaonier bald sämtliche einflussreichen Posten und verfügten über mehr Reichtümer, als es sich ein Kaiser zuschreiben mochte, und so kam es schließlich, dass einer der Könige, der über die Zeit in tiefer Schuld eines Tempelritters stand, den Weg zum Papst antrat, um von diesem Beistand zu erbitten. Dem Papst, welcher als Führer der Christen ohnehin die alleinige Macht beanspruchte, war der unheimliche Einfluss dieser Gilde schon lange ein Dorn im Auge und so zeigte er sich gleich gewillt, dem Treiben der Templer ein für allemal Einhalt zu gebieten. So begann ein regelrechter Raubzug gegen dieselben. Diejenigen, welche den Häschern nicht entkamen, entledigten sie ihrer weltlichen Güter, sperrten sie ein und peinigte sie mit glühendem Eisen und anderem grausamen Gerät, um das Geheimnis ihrer Macht zu ergründen. Da aber die Maßnahmen nicht fruchteten, verbrannte man sie auf dem Scheiterhaufen.
Im gleichen Zuge begehrten die Christen mit aller Gewalt den Kelch zurück, so dass die Verfolgten diesen von einem Versteck zum anderen brachten und derart sorgsam hüten mussten, dass der tägliche Gebrauch des Tranks zu gefährlich ward, und zu einem Privileg ihrer Führer heran reifte.
In der Folge verfielen die weniger Glücklichen erneut dem Fluch ihres Blutes und trieben ihr Unwesen unter den Menschen.

Nun waren aber die Führer der Christen den Lykaoniern an Machtgier bald ebenbürtig, in diesem Betragen ist der Mensch den göttlichen Bastarden sehr ähnlich; wer von ihnen einmal die Macht kostet, dem steigt sie flugs zu Kopfe und er sucht jedes Mittel, sie zu erhalten und zu erweitern.
Ein recht beliebtes Mittel zu diesem Zweck ist die Angst, sie hält die Untertanen gefügig. Aber das muss ich dir sicher nicht erklären." Duncans Miene zierte bei diesen Worten ein solch böses Lächeln, dass dem armen Sklaven heißkalte Schauer über den Rücken flossen und ein schweres Schlucken durch seine Kehle knarrte.
"Um den Grundstein für die Ängste der Christen zu legen, erfanden ihre Oberhäupter einen Ort, der all die Grausamkeiten beherbergte, die sich ein Mensch nur vorstellen konnte. Den Ort nannten sie Hölle und die Hüter des Ortes hießen sie Teufel, und wenn einer der Ihren nicht gehorchte, drohten sie ihm, dass er nach seinem Tode dorthin gelangte und gequält würde bis in alle Ewigkeit.
Da also der gute Christ nun fürchten musste, was ihn im Jenseits bedrohte, suchte er im Diesseits nach Indizien für jene Hölle und ihre Bewohner. Du kannst dir gewiss schon denken, was geschah, sobald ihnen ein Zeugnis lykaonischer Nachlässigkeit begegnete: Es versetzte die Unwissenden in Angst und Schrecken und sie suchten verzweifelt nach einer Erklärung. Wenn nämlich der einzige Gott keine blutlüsterne Bestie war, so musste es sich bei solch mächtigen Wesen ganz sicher um die Ausgeburten dieser Hölle handeln.
Folglich begannen sie damit, die Jäger selbst zu jagen und durch ihre zahlenmäßige Überlegenheit gelang es ihnen sogar, diesen den Garaus zu machen. Dabei gingen sie so harsch mit ihnen ins Gericht, dass sie die Bastarde auf grausamste Weise vernichteten, wann immer sie ihrer habhaft wurden.
Dann wurden sie in aller Öffentlichkeit bei lebendigem Leibe verbrannt, zu Tode gefoltert oder gepfählt, um damit den Sieg über den vermeintlichen Teufel zu demonstrieren.
Damit schien das Schicksal der Lykaonier besiegelt.
Die wenigen, welche die Verfolgung durch die Christen überdauerten, verkrochen sich in die hintersten Winkel der Welt und harrten dort in ratloser Verzweiflung ihrem Schicksal.

In dieser dunklen Stunde erbarmte sich Themis, eine Titanin, welche ehemals das Weib des Zeus gewesen, und prophezeite ihnen eine glorreiche Zukunft, wenn es ihnen gelänge, den Zugang zum goldenen Reich zu erschließen. Sie verriet ihnen die Orte, an denen der Schlüssel durch die Wut des Göttervaters nieder gegangen war, und was zu tun sei, um das Siegel zu brechen.
So machten sich die Kinder Lykaons schließlich auf die Suche nach den Fragmenten des wertvollen Relikts.

Zeus aber war der heimliche Plan der Themis nicht entgangen, und da er die Demut und Enthaltsamkeit der Desmoten bewunderte, half er ihnen, den blutlüsternen Brüdern zuvor zu kommen, um genau diese Absicht zu vereiteln. Während also die Lykaonier noch suchend durch die Wälder streiften, hatten diese die Fragmente bereits geborgen und in geheimen Tempeln versiegelt, welche selbst dem weisen Blick der Themis verborgen blieben.
Die Bastarde aber gaben die Suche nicht auf, und da sie bald Kunde vom Eingreifen des Zeus erhielten, gerieten sie darüber so außer sich, dass sie die Jagd auf die Desmoten wieder aufnahmen, um ihnen die Geheimnisse um die Fragmente zu entlocken. Ging einer von ihnen den Jägern in die Fänge, erwartete den Unglücklichen ein grausames Schicksal. Sie folterten ihn auf barbarische Weise, bis er verriet, was er wusste, oder an den Folgen starb.
Wieder waren die Abkömmlinge des Prometheus auf der Flucht vor den machtgierigen Bestien und ihr Schicksal wäre bereits zu dieser Zeit besiegelt gewesen, wäre den Jägern nicht ihr Fluch zu einer fatalen Last geworden.

Es verging Jahrhundert um Jahrhundert, das stolze, mächtige Geschlecht der Götterkinder litt an den Folgen des unwürdigen Daseins, und zu allem Elend verlor auch der Trank zunehmend an Wirkung, denn das Blut des Christus hatte sich aufgebraucht. Verzweifelt bemühten sich Druiden, der Essenz zu neuer Kraft zu verhelfen, mischten andere Zutaten hinzu und kreierten neue Essenzen. Das Ergebnis jedoch war wenig befriedigend.
Unweigerlich gerieten die Lykaonier erneut in Bedrängnis und erlagen dem Zwang, zu töten und eine blutige Spur zu hinterlassen. Dann wurde der Jäger zum Gejagten, wurde verfolgt, gestellt und hingerichtet, bis ihre Zahl auf wenige Dutzend zusammen geschrumpft war.
Auch das Zeugen eines Nachkommen ward immer seltener, denn den Preis für die ewige Jugend bezahlten sie mit einer stetig steigenden Unfruchtbarkeit. Die Rasse der göttlichen Bastarde schien zum Niedergang verdammt.

Indes war auch das Blut der Desmotenkinder einer steten Verdünnung zum Opfer gefallen. Immer wieder hatten sie sich mit dem einfachen Volk gepaart, um Nachkommen zu zeugen, bis auch unter ihnen diejenigen, welche noch einen Hauch göttlicher Fähigkeiten inne hatten, kaum mehr zwei Hände füllten.
Es schien bald so, als wäre das göttliche Erbe des Poseidon und auch das des Prometheus für immer verloren. Was viele Jahrtausende allem Unbill getrotzt und diese überdauert hatte, war dem geschickten Planen und Wirken eines Einzelnen zum Opfer gefallen.

Nun hatte der Mächtigste der Templer in weiser Voraussicht ein Buch von dem Wissen der Themis gefertigt, in welches er ihre Prophezeiungen nieder geschrieben hatte. Auch fand sich dort ein Vermächtnis jener Geschichte wieder, die ich dir soeben erzählte, und das Geheimnis um die Bereitung des Tranks. Doch auch diesen Vorteil vernichtete Zeus in seinem Ärger, er entführte das Buch aus seinem Versteck, versiegelte es in einer goldenen Truhe und versteckte diese auf dem Olymp.
Jahrhundert um Jahrhundert verbrachten wir mit der vergeblichen Suche nach dieser Lade, als mich der Weg schließlich nach Delphi verschlug."

Duncan nahm das wundersame Buch wieder an sich und klappte es behutsam zusammen, in seinen Augen glitzerte ein verwegenes Feuer, als er dem goldenen Reptil den Mund verschloss und ihm zärtlich über sein schuppiges Haupt streichelte.
"Nun, wie du siehst, war mir das Orakel wohlgesonnen und verriet mir einen Hinweis. So war mir möglich, das Buch von dort zu bergen." Er lächelte listig, stand auf und brachte das göttliche Relikt wieder an seinen Platz.

Tonio, dem die gewaltige Flut an unglaublichen Geschichten den Kopf verwirrte, wie ein in Aufruhr geratener Bienenstock, sah ihm mit offenem Mund hinterher, und langsam aber stetig fügte sich ein Puzzlestück mit dem anderen zusammen. Wieder sah er den sonderbaren Traum in seinem aufgewühlten Geiste, sah Duncan als blutrünstigen Wolf, sah ihn als Engel an seinem eigenen Grabe stehen, nachdem er dem Tode so nah gewesen... Was zur Hölle hatte er ihm angetan? Ihm, einem unbescholtenen Spanier reinen Herzens? War es möglich, dass...?

"Oh nein, mein Junge, du warst nie ein gewöhnlicher Sterblicher", unterbrach die Stimme den Gedanken lachend, während der Verursacher derselben auf ihn zu geschritten kam und sich direkt neben ihm aufbaute, "denn diesen fehlt die göttliche Stärke, um das Ritual zu überstehen." Er nahm Tonios Hand und zog ihn daran zu sich hoch. Dem Spanier drohte vor Schreck der sichere Stand zu versagen, mit zitternden Knien starrte er auf die wogende Brust des hünenhaften Mannes, als dieser ihn am Kinn nahm und sein Haupt anhob, um ihm in die furchtsam blinzelnden Augen zu sehen.
"Du, Antonio di Alvarez, bist ein Erbe des Prometheus, ebenso wie es dein Vater einer war, und vor ihm seine Väter... In deinen Adern fließt das edle Blut eines Desmoten!"

Tonio schluckte fassungslos, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen ob der letzten Worte, und der Hand an seinem Kinn zum Trotz sank er unaufhaltsam auf seine Knie. Wenn wahr wäre, was Duncan ihm offenbarte, dann...
"Es ist wahr, Antonio, und du weißt es. Du sahst meine Schwingen, als ich dich von den Toten erweckte.
Mein wahrer Name ist Seth, und ich bin ein Lykaonier, einer der letzten Nachfahren Poseidons. Meine Bestimmung war seit Urzeiten, die Deinen zu jagen und zu unterwerfen, so wie es dein Zweck ist, von mir und den Meinen bezwungen zu werden. Es ist der Fluch des Prometheus, der auf euch lastet, wie es der Unsere ist, der Rage des Blutes zu erliegen. Ihr seid verdammt, in Ketten zu dienen, oder durch unsere Hand zu sterben."

Wieder schluckte Tonio verstört und die Ehrfurcht zwang ihn, demütig sein Haupt zu senken. Vor ihm stand der Sohn eines mächtigen Göttergeschlechtes und strich ihm gnädig über das Haar. Ein heftiger Grusel vereinte sich mit dem beglückenden Wunsch, diesem göttlichen Wesen die Füße zu küssen, und überzog seinen Leib mit wohlig prickelnden Schaudern. Ohne es verhindern zu können, folgte er dem ungestümen Drang, beugte sein Haupt bis zum Boden und setzte einen zarten Kuss auf den göttlichen Fuß. Der Highlander indes würdigte die Geste mit einem verächtlichen Lachen und entzog sich den Lippen durch den lässigen Gang zu einem anderen Schrank. Tonio in seiner devoten Verwirrung, kroch ihm auf den Knien hinterher, blieb jedoch in respektvoller Entfernung sitzen und beobachtete ihn zaghaft.

Duncan hatte sich einstweilen aus dem Möbel ein weiteres Buch heraus genommen und blätterte suchend darin herum, und noch während sein Augenmerk darin verweilte, fuhr die Stimme in ihrer Erzählung fort.
"Deine Ahnen bewachten einst den Tempel des Herakles, welcher sich auf einem Felsen im Meer vor der Küste von Cadiz befand, dort lagerte eines der Schlüsselfragmente unter einem mächtigen Siegel. Als wir den geheimen Tempel endlich fanden, und es gelang, dort einzudringen, kam es zu einem erbitterten Kampf zwischen deinem Urvater und den Unseren, bei dem der Tempel zerstört wurde. Dein Ahne entschwand in dem folgenden Chaos in den Wogen des Ozeans und der Schlüsselstein mit ihm. Wir suchten auf dem Grund des Meeres und in den Trümmern, doch vergebens, der Schlüssel war fort.
Seit dieser Zeit glaubten wir ihn für immer verloren und wir ließen die Suche ruhen, bis ich im Buch der Erkenntnis darüber las. So wusste ich, wo ich danach suchen musste, und wer der Auserwählte sei.
Etwas an dir unterscheidet dich von allen anderen Abkömmlingen, was es aber ist, das entzieht sich meiner Kenntnis. Allein der Umstand, dass deine Mutter dem Eiland der heiligen Maria entstammt, bewegt mich zu der Annahme, in ihrer Herkunft den Grund zu suchen, denn diese liegt doch sehr im Dunkeln."

Wieder blieb dem Spanier der Schreck im Hals stecken und zwang ihn zu einem trockenen Schlucken. Die beinahe Allwissenheit des Highlanders erschütterte ihn bis ins Mark. Tatsächlich hatte er die Großeltern nie gekannt, und auch die Mutter wusste nichts von ihnen zu berichten. Ihrer Erzählungen nach waren diese auf tragische Weise ums Leben gekommen, bevor sie sich hätte erinnern können. Was aber hatte seine Mutter mit all den schauerlichen Geschichten zu tun?

"Diese Frage stellt sich dir, da du nicht weißt, mein Junge, welch dunkles Geheimnis deine kleine Insel umgibt. Denn dort, in den tiefen Felsen des Spiegelberges, weit unter dem Grund des Meeres, liegt der Eingang, das Tor zur goldenen Stadt."
Er räumte wie beiläufig das Buch wieder ein und wanderte hinüber zu seinem Bett. Dort streifte er sich den seidenen Mantel von den Schultern, ließ ihn achtlos zu Boden gleiten und stieg hinein.

"Du, mein kleiner Spanier, bist ein Teil dieses Tors", erklärte er lächelnd, als wäre diese Feststellung das Normalste von der Welt, verschränkte entspannt ausatmend seine Arme hinter dem Haupt und lehnte sich an das Kopfende des Bettes, sein Blick wanderte dabei abschätzend über den Sklaven, welcher offensichtlich mit der Fassung kämpfte, und ihn, wie schon zuvor, mit offenem Munde anstarrte. Eine Weile war es still in Tonios Kopf, Duncan schien die Wirkung seiner Worte in vollen Zügen auszukosten, sein Grinsen sprach Bände. Er war so sehr mit dem Unglaublichen beschäftigt, welches sein Selbstverständnis erschüttert hatte, dass ihm der durchdringende Blick des göttlichen Wesens erst gewahr wurde, als die lautlose Stimme erneut die Stille unterbrach. Verstört flatterte sein Augenmerk zu Boden.
"Nun weißt du wenigstens, warum du deinem Schicksal nicht entkommen kannst, Tony, so sehr du es auch versuchen magst, es ist vergebens, denn dein Weg steht bereits geschrieben. Dein Blut wird vergossen werden, um das Siegel nach Atlantis zu brechen. Dann wird sich die Prophezeiung erfüllen."

Tonio ächzte hörbar und seine zitternden Finger suchten Halt in dem steinernen Boden, auf dem er kniete. Die Offenbarung des Highlanders war so unglaublich wie furchteinflößend, und doch ergab nun alles einen Sinn. Das Puzzle fügte sich zu einem großen Bild zusammen, und dieses war weitaus verstörender, als der überwältigende Anblick des nackten Körpers Duncans.
Nie hatte er den Legenden um seine Heimat eine Bedeutung beigemessen, sie waren ihm als nichts weiter, denn gruselige Märchen erschienen, die seine Kindheit ebenso begleitet hatten, wie der Mythos um den sonderbaren Padre, welcher angeblich schon das Eiland bewohnte, lange bevor es in den Besitz seiner Familie gewechselt war.

Aber er hatte Padre Iki doch mit eigenen Augen gesehen, ja sogar als kleiner Bub auf seinem Schoß gesessen, und er hatte ihn für ganz gewöhnlich befunden. Damals hatte er sich entschlossen, diesen Gerüchten keinen Glauben zu schenken...
Nun aber gedachte er mit Schaudern der Sagen, welche von einer vergangenen und einer drohenden Apokalypse berichteten und der Benennung des Padre, die ihm in dieser Mär zugedacht worden war. 'Der Hüter des Chaos' hatte man ihn geheißen.

"Dann ist es also wahr, und Ikarus weilt tatsächlich noch unter den Lebenden? Das ist in der Tat interessant, denn mit ihm habe ich noch eine offene Rechnung zu begleichen."
Tonio starrte den grinsenden Highlander erschrocken an, wie hatte er vergessen können, wer in seinem Kopfe mitlas?
Verbissen bemühte er sich, an etwas anderes zu denken, doch es wollte ihm einfach nicht gelingen.
"Erspare dir die Mühe, Tony, du kannst keine Geheimnisse vor mir verstecken!", flüsterte Duncan mit einem verschlagenen Lächeln auf den Lippen. "Nicht nur dein Leib gehört mir, Kleiner! Auch dein Geist ist mein und ich kann über ihn verfügen wie über dein Leben."

Ein verzweifelter Aufschrei bemächtigte sich der Brust des Sklaven: Welch furchtbare Tat hatte ihn zu einem solchen Schicksal verdammt? Er wollte nicht von seinem Blut geben, wenn es eine Apokalypse entfesselte! Niemals! Lieber wollte er augenblicklich sterben!
"Nun male doch nicht den Teufel an die Wand, Tony, diese dumme Mär schufen die Hüter aus Angst vor ihrer eigenen Unwissenheit, denn sie vergaßen mit den Jahrhunderten den Zweck ihrer Aufgabe.
Nein, mein Junge, dein Blut öffnet lediglich ein Tor und ermöglicht meinem Volk eine strahlende Zukunft. Dein Opfer ist Sühne für die Schmach, welche die Untaten Jesu über uns brachte. Der Dank der Meinen sei dir damit in alle Ewigkeit gewiss!"

In der niedergeschmetterten Pose verharrend, starrte Tonio auf seine zitternden Finger, welche sich nach wie vor in die Ritzen zwischen den Steinplatten gruben.
Nichts war gewiss, gar nichts! Hatte Duncan ihm nicht erst vor wenigen Augenblicken erklärt, dass sein Volk macht- und bluthungrige Bestien wären? Der Schotte belächelte den Gedanken amüsiert und klopfte auffordernd neben sich auf das Bett.
"Nun starr nicht so entsetzt! Du kannst ja doch nichts daran ändern. Komm schon her zu mir, und entspann dich, Kleiner!"

Wieder ging ein Schlucken durch Tonios Kehle und sein Blick wanderte fassungslos über den makellos geformten Leib des unheimlichen Mannes, welcher ihm just sein bevorstehendes, blutiges, und sicherlich unheilbringendes Opfer prophezeit hatte, als handele es sich dabei um eine Einladung zum Dinner. Und nun lag er dort auf seinem Linnen, nackt, wie Gott ihn schuf, im wahrsten Sinne des Wortes, und wollte, dass er zu ihm kam?... um sich zu entspannen?!

"Nun zier dich nicht, wie ein Weib, Tony, ich beiße schon nicht... oder vielleicht doch...", lachte Duncan und unterzog den Knienden einer eingehenden Musterung. Dieser senkte, wie gewöhnlich bei dieser Art Blick, verstört das Haupt und rutschte auf Knien dem Bett entgegen.